Die Führerscheinprüfung am Kapitalmarkt
Die meisten von uns haben einen Führerschein und die meisten von uns halten sich zu Recht für gut im Autofahren. Und den meisten von uns ist bewusst, dass man beim Autofahren nahezu immer nach vorne und nicht nach hinten blickt. Selbst der Rückspiegel dient mehr oder minder nur der Kontrolle. Nicht so an den Kapitalmärkten. Dort wird der Rückspiegel zuletzt immer öfter als Steuerungsinstrument eingesetzt, und das verwirrt.
Wir leben aktuell seit Jahren mit dem Kampf gegen die Inflation. Ob durch Krieg, taktisches Preismanagement, veränderte Konsumgewohnheiten oder gar fehlende Lieferketten, die Inflation ist gestiegen, und zwar rasant. Maßnahmen wurden und werden gesetzt sie wieder zum Sinken zu bringen, und auch die Messlatten an den Kapitalmärkten bedienen sich immer mehr dieser Inflationszahlen als Basis der Argumentation. Nun, schön und gut möge man meinen. Aber Inflation ist eine rückwärts gerichtete Zahl. Etwas, was in einem fiktiven Warenkorb gewichtet ist, wird periodisch auf Preisveränderungen geprüft, diese werden dann nach einer gewissen Zeit übernommen, und der Wert dieses Korbs neu berechnet. Die dadurch entstehende Veränderung entspricht der Inflation. Und diese Inflation wird zumeist auf Basis von Jahresschritten präsentiert und berichtet. Das ist etwas, was gestern oder noch weiter in der Vergangenheit passiert ist und eine Reflexion auf Veränderungen gegenüber noch weiter zurück liegenden Zeiträumen gibt. Wo bleibt der Blick der Märkte nach vorne? Haben wir die Argumentationsketten umgekehrt? Jonglieren wir nur mehr Zahlen von gestern im heutigen Nebel?
Na gut, war ein wenig abstrakt formuliert, aber durchaus einen Gedanken wert. So nimmt ein Bondinvestor die Inflation in Zusammenhang mit seiner Investition als „reale Rendite“ wahr. Das, was nach Abzug der Inflation von seiner Rendite übrigbleibt. Und jammert vielleicht lautstark, dass da heute ein Minus herauskommt. Stimmt, die Realrenditen sind durch die aktuell noch immer erhöhten Inflationswerte zumeist negativ. Aber die meisten Bondinvestoren schrecken sich nicht vor diesem Faktum, sie kaufen ja mit den Renditen die Erträge der Zukunft und nehmen durchaus zu Recht an, dass die künftige Inflation auch sinken kann und wird. Sie fürchten sich nur vor denjenigen Institutionen die diese historischen und rückwärts errechneten Inflationszahlen als Maßstab des Heute verwenden und einsetzen und das sind in erster Linie die Notenbanken. Der Spagat in der Investmentlogik erklärt sich dabei nicht nur bei Bonds, sondern natürlich auch bei Aktien die ja noch einen Faktor, diesmal einen sogar positiven, in dieser Analogie berücksichtigen dürfen: jene Branchen und Unternehmen die so gar nichts an der Inflationssteigerung Schuld haben, aber trotzdem fest daran verdienen dürfen, weil sie ihre Kundenzahlungen an die Inflation gekoppelt haben. Ein „Gratis“-Gewinnsprung auf einer Basis die bereits Geschichte ist. Klingt nach Lottogewinn, oder (Warum dann die halbe Welt Wohnimmobilienaktien bis vor kurzem verkauft hat, ist mir noch immer nicht klar)?
Tatsache ist, dass an den Kapitalmärkten derzeit mit Einheiten, die vergangen sind, Interpretationen über Verhaltensmuster von Teilnehmern, die diese verwenden gemacht werden, um daraus die Zukunft von Zinsen und den damit verbundenen Kosten zu erdenken. Ein Prozess der die Einschätzung des Zeitpunktes, ab dem die historischen Effekten jenen der Zukunft weichen dürfen in sich trägt. Also ab wann erkennen EZB & Co, dass die Zeiten hoher Inflation länger vorbei sind als deren Entstehungsphase. Dann kann man wieder den Rückspiegel verkleinern und sich mehr dem Gegenverkehr widmen.
Klingt irgendwie nach einem Psychospiel, in dem der Regisseur im Spiegel sitzt.