Standortbestimmung
Die gesunkene Liquidität und die wieder auf alte Bereiche zurückgekommene Volatilität lassen mich dies interpretieren: der gefühlt erste „Kapitalmarktsommer“ seit Langem, neigt sich dem Ende zu. An Sicherheiten haben wir kaum gewonnen, aber die Aktienmärkte sind grosso modo in guter Verfassung. Die Suche nach den Ursachen dafür füllt jeden Tag die Mail-Inbox gefühlt zwei Mal. Für jede Bewegungsinterpretation gibt es täglich dutzende Mails. Die zugemutete Interpretations-Divergenz am Top.
Der Versuch eines Fakten-Checks scheitert nahezu im Versuch an ... erraten, Fakten. Wir wissen nicht wie sich die Finanzhilfen in eine Wirtschaftserholung hineinarbeiten. Unsere Banken können uns nicht sagen wie viel ihrer Rückstellungen oder Rückstellungsauflösungen wirklich am Ende des Jahres notwendig waren. Man weiß nicht wer aller noch physisch zur Arbeit geht, oder gehen wird und wer nicht. Man weiß nicht welche Aufträge nur deswegen noch nicht wirken dürfen, weil sie noch niemand unterzeichnen konnte (vielleicht weil noch immer im Stau an der slowenischen Grenze stehend). Man versucht zu interpretieren was denn wäre wenn … der Konsum doch wieder aus dem Amazon-Sofa-Loch herauskriecht ins Licht der öffentlichen Räume. Was wäre wenn nicht jeder zweite Gastwirt vorsorglich gleich die nächsten Monate zugesperrt hätte. Man weiß nicht wie schlimm es wirklich ist, wenn man an jedem dritten Geschäft am verschlossenen Tor klebenden Zettel erkennt, dass es zwar Covid-19 samt im täglichen TV geübter Existenzbedrohung gibt, aber der Urlaub fix im Kalender stehen bleibt. Und man erkennt an den Kapitalmärkten, dass es wohl noch etwas Anderes in deren Universum geben muss, das eine Investition derzeit als erfolgreich oder nicht bestimmt. Fakt ist, Fundamentalanalyse zählt hier anscheinend derzeit definitiv nicht mehr dazu. Die Bewertungen mancher Sektoren und auch Märkte kann man sich nicht mehr anders erklären. Der heimische ATX zählt hier an vorderster Front dazu. Nur eben nicht als Profiteur.
Natürlich kann man argumentieren, dass die Struktur des ATX mit seinen hohen Banken-, Energie- und Grundstoffgewichtungen in einem Covid-19 Universum alles andere als sexy ist. Es wird aber ziemlich unmöglich diese Logik zu bestätigen, wenn die generelle Marktbewertung, das in den Bilanzen vorhandene Eigenkapital bereits um 20% unterschreitet. Diese Logik wäre nur dann korrekt, wenn kommende Verluste dieses Eigenkapital auf lange Sicht reduzieren werden. Und das ist bei etlichen dieser Unternehmen trotz aller Negativperformance und Virusängsten definitiv nicht zu erkennen. Klar kann man um Hilfe rufen bei Börse, Regulator oder Politik, nur wer will sich schon zum gefühlt x-ten Mal frustrieren, weil dann wieder nichts kommt. Nicht einmal ein Echo. Wien bleibt daher wie es ist. Ein Markt der sich selbst überlassen ist. Vielleicht gerade deshalb am Ende gar nicht mal so schlecht.
Es wird wohl ein volatiler Herbst werden an den Aktienmärkten. Doch bevor uns Donald Trump mit seiner Unwissenheit wieder schockiert, abgelöst von der Erkenntnis gegenüber der noch größeren Unwissenheit seiner Claqueure, und dem eigentlichen Schock, dass es uns selbst inzwischen fast schon egal geworden ist was „uns da passiert“, werden wir uns darauf vorbereiten dürfen, in diesen Zeiten über wirklich langfristige heimische Investments nachzudenken. Und dabei stellen wir einmal jede chauvinistische Ableitung ins Eck und konzentrieren uns nur auf die (diesmal vorhandenen) Fakten: So tief wie jetzt waren wir zuletzt 1993 bewertet.