Wer erinnert sich noch?
Vor etwa dreißig Jahren begannen Renditen von Staatsanaleihen zu sinken (In USA sind es sogar 34 Jahre). 9,125% war die magische Grenze, ab der es mit den Renditen danach nur mehr bergab ging. Die Inflation lag damals bei 6,3%. Dreißig Jahre. Ein halbes Berufsleben. Die Meisten, die sich einen Zinsanstiegszyklus vorstellen wollen, haben eine solche Erfahrung in der Praxis noch nie erlebt.
Genauso haben wir seit neun Jahren in Europa Dividendenrenditen, die immer höher über jene der vergleichbaren Unternehmensanleiherenditen stiegen. Auch das für Viele „normal“, für Andere, Ältere, Grund für tägliches Kopfkratzen.
Einmal zu den Staatsanleihen: Bleiben wir am Boden. 30 Jahre sind eine lange Zeit und selbst diejenigen, die sich noch an ein paar alte Erinnerungen klammern, haben keine Ahnung wie sich diese Erfahrung in die heutige Zeit importieren lässt. Es hat sich ja nahezu alles geändert. Die Handelssysteme, Handelsinstrumente, Regularien, selbst die Notenbanken ticken heutzutage komplett different zu anno 1990. Ist deshalb vielleicht auch gar nicht wichtig, sich an „Damals“ zu erinnern, wichtig ist einzig und allein zu erkennen, dass Zinsanstiege keine Einbahnstraße sind. Diese Prozesse haben durchaus sehr langfristigen Charakter, weil volkswirtschaftlich basiert, selbst wenn manche Präsidenten diese Charakteristik gerne der Schlagzeile auf Twitter oder irgendwelchen Nationalzeitungen opfern würden.
Die zweite potentielle „Erinnerungslücke“, der Spread zwischen Dividendenrendite und Bondrendite hat es vielleicht noch mehr in sich. Jeder BWL-Student, oder selbst jeder, der sich Gedanken über die innere Funktion von Aktiengesellschaften macht, müsste angesichts der aktuellen Divergenz zwischen diesen beiden Ertragskomponenten ins Grübeln kommen. Dividendenrenditen sollten eigentlich deutlich tiefer liegen als vergleichbare Anleiherenditen. Der Grund dafür ist so simpel wie auch aktuell scheinbar falsch: Dividenden passen sich dem Geschäftsgang der jeweiligen Unternehmung an. Erzielt die Firma Gewinne, schüttet man zumeist aus. Je mehr Gewinne, umso mehr. Ein Unternehmen das langfristig wächst hat daher höhere und steigende Ausschüttungen als Versprechen. Jeder, der dies auch zu glauben bereit ist, würde daher heute eine geringere Dividendenrendite akzeptieren, weil diese einem in Zukunft ja „entgegenwächst“. Bei Bonds ist die Rendite zumeist fix. Man weiß was man hat. Bondrenditen wachsen schon, aber nur ein wenig auf Basis eventueller Zinseszinsen. In Zeiten von Negativzinsen ein hartes Brot, daraus Fantasie zu entwickeln. Aktuell liegt die Differenz zwischen Anleiherendite und Dividendenrendite in der EU bei 2,61%. Um 2,61% ist die durchschnittliche Dividendenrendite höher, als jene aus Anleihen (nicht Staatsanleihen sondern exakt dieselben Unternehmensanleihen die auch obige Dividenden schütten). Diesen Zustand der umgekehrten Rendite-Logik haben wir seit 9 (!) Jahren. Er wurde nicht besser. Im Gegenteil, seit 4 Jahren ist der Abstand am Hoch stabil. Trotz guter Konjunktur, trotz keinem Auseinanderbrechen der EU, trotz Inflation über 2%. Das Geschenk des Jahrhunderts an alle jene, die sich vor einiger Zeit zum Kauf von Aktien entschieden haben. Deren eventuelle Kursschmerzen wurden durch stetig wachsende bzw. stetig hohe Dividenden gemildert. Rechnen wir einfach einmal im Kopf nach wie viel eine Aktie fallen dürfte, wenn sie 10 Jahre hindurch jedes Jahr 3% ausschüttet und dabei noch mit 5% pro Jahr wächst (EU-Wachstum liegt weit darüber). Und der Kurs steigt mit der Dividende ja auch mit, weil laufend die Rendite mit dem Markt verglichen wird. Jedem Anleihekunden treibt es die Tränen in die Augen, aber trotzdem bleibt die Divergenz bestehen. Noch. In USA hat sich dieser Spagat bereits gedreht. Die Renditen auf Staatsanleihen sind über die durchschnittliche Dividendenrendite gestiegen. Wer nun glaubt, und das wäre durchaus legitim bei Beobachtern die seit neun Jahren nichts anderes gesehen haben, dass nun die Aktien fallen müssten, weil ja Bonds wieder offensichtlich attraktiver sind, der macht einen Fehler. Das was dort gerade passiert ist nichts anderes als, dass man sich an das „alte“ Bewertungsmuster erinnert, das den Dividenden ja auch das innere Wachstum zutraut. Und dann sieht die Situation gleich wieder anders aus. Da macht „Erinnern“ wieder Sinn.
Ich höre schon das Feuer im Kamin knistern, die Füße in warmen Hausschuhen, geschützt von einer Decke, staunend glänzenden Augen erzählend wie es denn damals so war ;-).